Cogital

Wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Kultur, weil wir selbst davon nicht überzeugt sind, ein wahrhaftiges Leben in uns zu haben. Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und ein Äußeres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersät, Begriffsdrachen erzeugend, dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eignen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist: als eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Worte-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht, von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. Das leere ‘Sein’, nicht das volle und grüne ‘Leben’ ist mir gewährleistet; meine ursprüngliche Empfindung verbürgt mir nur, dass ich ein denkendes, nicht dass ich ein lebendiges Wesen, dass ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin.

—Friedrich Nietzsche

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