Manegereife Leistung der Selbstbezähmung

Nun betritt er als Gast diesen Ort, an dem sie früher alles miteinander teilten. Der Besuch gilt dem kleinen Sohn, den er mit auf eine Bergtour nehmen will. Der äußere Gleichmut, mit dem sich die Eltern begegnen, ist eine manegereife Leistung der Selbstbezähmung. Der Mann hat seinen unbändigen Hass so abgerichtet, dass er brav seiner Frau eine Hand reicht, die ihr eigentlich an die Gurgel will. Mit übereinandergeschlagenen Beinen, das Geschlecht abgeriegelt, sich in der Gewalt habend, sitzt er bei ihr am Küchentisch, allerdings ohne dass sich ihre Blicke ein einziges Mal kreuzen. Er spürt vor sich einen Menschen, wahrscheinlich den einzigen, mit dem er es je zu tun hatte, den selbst sein Tod nicht versöhnlich stimmen würde. Sie sitzt derart verschlossen, in ihre Verhärmung eingesperrt, erstarrt, dass nicht einmal ein leises heißes Fauchen über ihre Lippen kommt. So sieht er sie.

—Botho Strauß

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