Die eigentümlichen Fähigkeiten der vernünftigen Seele

Die eigentümlichen Fähigkeiten der vernünftigen Seele: Sie sieht sich selbst, zergliedert sich selbst, formt sich selber nach ihrem Willen, erntet selber die Frucht, die sie trägt – denn die Früchte der Pflanzen und die entsprechenden Erzeugnisse der Tiere ernten andere –, sie erreicht ihr eigentümliches Ziel, wo auch immer das Ende des Lebens eintritt. Es ist bei ihr nicht etwa so wie beim Tanz und beim Schauspiel und ähnlichen Künsten (denn da bleibt die ganze Leistung unvollendet, wenn eine Unterbrechung eintritt); vielmehr erfüllt sie in jedem Stadium und wo auch immer sie betroffen wird, das, was sie sich vorgesetzt hat, vollkommen, sodass nichts fehlt, sodass sie sagen kann: “Ich habe mein Ziel erreicht.” Und sie umwandelt den ganzen Kosmos und das Leere um ihn und seine Gestalt, und sie schreitet in die Unendlichkeit der Ewigkeit und umfasst und umdenkt die periodische Wiedergeburt des Alls und erwägt, dass die nach uns Kommenden nichts Neues entdecken werden und die früheren Geschlechter auch nicht mehr gesehen haben, dass vielmehr in gewissem Sinne der Mann von 40 Jahren, wenn er nur einen Funken Verstand hat, alles Vergangene und alles Künftige gesehen hat, weil es im Grunde ganz gleicher Art ist. Eine besondere Eigenschaft der vernünftigen Seele ist auch die Liebe zu den Mitmenschen und die Wahrhaftigkeit und Ehrfurcht, wie auch die Tatsache, dass sie nichts höher achtet als sich selbst, ein Zug, der auch dem Gesetz eigen ist. So unterscheidet sich denn die rechte Vernunft und die Vernunft, die der Gerechtigkeit innewohnt, in nichts.

—Marc Aurel

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