Die Angst vor der deutschen Barbarei

Doch wie war das möglich: Im Land der Kultur wurden Kinder von ihren Erziehern mit einem Rohrstock geprügelt. Da konnte etwas nicht stimmen. Nein, ich habe diesen Widerspruch damals natürlich nicht verstanden, nicht einmal geahnt. Nur habe ich an meinem ersten Schultag in Deutschland gleich etwas zu spüren bekommen, was ich nie ganz überwinden konnte, was mich ein Leben lang begleitete. Begleitete? Nein, sagen wir lieber: begleitet. Ich meine die Angst – vor dem deutschen Rohrstock, dem deutschen Konzentrationslager, der deutschen Gaskammer, kurz: vor der deutschen Barbarei. Und die deutsche Kultur, die mir das Fräulein Laura so nachdrücklich und schwärmerisch angekündigt hatte? Auch sie ließ nicht lange auf sich warten. Ziemlich schnell geriet ich in den Bann der deutschen Literatur, der deutschen Musik. Zu der Angst kam also das Glück hinzu – zur Angst vor dem Deutschen das Glück, das ich dem Deutschen verdankte. Auch hier ist das Präsens durchaus angebracht, also: verdanke, immer noch verdanke.

—Marcel Reich-Ranicki

 

 

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